Wenn alles zu viel wird: Depression aus systemischer Sicht verstehen
- Stefanie Evita Ibrahim
- 16. Juni
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Juni

Wenn alles zu viel wird – und gleichzeitig nichts mehr zählt
Vielleicht kennst Du das: Es ist, als würde eine unsichtbare Schwere auf Deinen Schultern liegen. Du funktionierst nach außen hin noch, vielleicht sogar gut. Du arbeitest, lachst gelegentlich, gehst Deinen Verpflichtungen nach. Aber innerlich zieht sich etwas zurück. Alles erscheint sinnlos, belanglos, leer. Und gleichzeitig spürst Du, dass Deine innere Welt viel zu laut ist: Gedanken kreisen, Gefühle überfluten Dich oder bleiben ganz aus. Es ist eine paradoxe Erfahrung: Du bist erschöpft von einem Leben, das Du nicht mehr wirklich fühlst.
Depression zeigt sich oft nicht durch Tränen. Sondern durch das Verstummen. Die Erstarrung. Den inneren Rückzug. Und durch das Gefühl: „Ich bin falsch. Irgendetwas stimmt mit mir nicht."
Ein Blick auf die Diagnose und ihre unterschiedlichen Abstufungen
Depression ist mehr als nur Traurigkeit oder vorübergehende Niedergeschlagenheit. Sie ist eine ernsthafte Erkrankung, die das Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst und oft tiefe Auswirkungen auf das tägliche Leben hat. Aber was genau zeichnet eine Depression aus?
Die Diagnosekriterien für eine Depression beruhen auf den Richtlinien des International Classification of Diseases, kurz ICD-10 und beinhalten in der Regel folgende Merkmale:
Niedergeschlagenheit oder Traurigkeit: Anhaltende Traurigkeit, die fast den gesamten Tag über präsent ist und sich oft in einem Gefühl der Leere oder Hoffnungslosigkeit äußert.
Verminderter Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit: Selbst einfache Tätigkeiten werden als übermäßig anstrengend erlebt und es fehlt an innerer Energie oder Motivation, aktiv zu werden.
Verlust des Interesses an Aktivitäten, die früher Freude bereitet haben, Dinge, die einst spannend oder erfüllend waren, verlieren ihren Reiz.
Veränderungen im Schlaf: Zu viel oder zu wenig Schlaf, häufiges Wachwerden mitten in der Nacht oder sehr frühes Aufwachen.
Appetit- und Gewichtsveränderungen: Entweder starke Zunahme oder Verlust des Appetits, was zu einem merklichen Gewichtsunterschied führt.
Konzentrationsstörungen: Schwierigkeiten, sich zu fokussieren, Entscheidungen zu treffen oder einfach im Moment zu sein.
Gefühle der Schuld oder Wertlosigkeit bis hin zu Suizidgedanken: Übermäßige Selbstkritik oder Schuldgefühle, die weit über das hinausgehen, was eine Situation tatsächlich rechtfertigt und in Suizidgedanken und -phantasien münden können.
Körperliche Symptome: Häufige körperliche Beschwerden wie Kopf- oder Rückenschmerzen ohne eine klare körperliche Ursache.
Es ist wichtig zu wissen, dass nicht jede Depression alle diese Symptome gleichzeitig aufweist. In der Regel müssen mindestens zwei bis drei der genannten Kriterien über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen bestehen, um eine Diagnose zu stellen.
Unterschiedliche Abstufungen der Depression
Depressionen gibt es in verschiedenen Schweregraden, die sich auf das tägliche Leben und die Fähigkeit, zu funktionieren, auswirken:
Leichte Depression: Du funktionierst zwar noch, aber es fällt Dir zunehmend schwerer, Freude zu empfinden, und der Alltag ist mit einer bleiernen Schwere durchzogen. Es gibt gute Tage, aber auch viele Momente, in denen Du das Gefühl hast, dass die Last zu schwer ist.
Mittelschwere Depression: Deine Symptome beeinträchtigen schon erheblich Deine Fähigkeit, alltägliche Aufgaben zu erledigen. Du bist in vielen Bereichen Deines Lebens eingeschränkt, vielleicht fehlt Dir die Energie, um zur Arbeit zu gehen oder Dich um wichtige Beziehungen zu kümmern.
Schwere Depression: Hier sind die Symptome so ausgeprägt, dass sie Deine gesamte Lebensqualität beeinträchtigen. Du fühlst Dich von der Welt abgeschnitten und selbst einfache Aufgaben können wie ein unüberwindbares Hindernis erscheinen. Hier bedarf es dann Unterstützung in einer Klinik, um Stabilität, Sicherheit und eine intensive therapeutische Begleitung zu ermöglichen – insbesondere, wenn Suizidgedanken oder ein kompletter Rückzug aus dem Alltag hinzukommen.
Wie erkennst Du eine Depression?
Vielleicht hast Du Dich in einigen der beschriebenen Symptome wiedererkannt, aber die Frage bleibt: Wie erkennst Du, ob Du unter einer Depression leidest? Es kann sehr hilfreich sein, darauf zu achten, wie lange Du Dich schon so fühlst und wie sehr es Dich im Alltag einschränkt. Wenn die Symptome mehrere Wochen anhalten und Du das Gefühl hast, sie selbst nicht mehr in den Griff zu bekommen, solltest Du Dir unbedingt Unterstützung suchen.
Die Schattierung einer Depression ist oft viel subtiler als die Vorstellung, die wir oft von dieser Erkrankung haben. Sie kann sich in innerer Leere, abgestumpften Gefühlen oder einer fehlenden Verbindung zu anderen äußern. Manche Menschen erleben es als inneren Konflikt zwischen der „Pflicht“, stark zu sein, und dem „Verlangen“, einfach mal loszulassen.
Du bist nicht allein, sondern Teil eines Gefüges
In der systemischen Therapie schauen wir nicht nur auf Deine Symptome, sondern auf die Kontexte, in denen sie entstehen. Du bist kein isoliertes Wesen. Du stehst in Beziehung – zu Menschen, zu Deiner Geschichte, zu unausgesprochenen Erwartungen, zu inneren Bildern, zu familiären und gesellschaftlichen Mustern.
Depression entsteht nicht im luftleeren Raum. Sie kann eine Antwort auf zu viel Verantwortung sein, die Du früh übernommen hast. Auf das Ungesagte in Deiner Familie. Auf Rollen, in denen Du funktioniert, aber nie wirklich gelebt hast. Auf Überforderung, auf Anpassung, auf Loyalitäten, die nie hinterfragt wurden.
Der Schmerz, der sich heute zeigt, hat oft eine Geschichte, die nicht an einem Punkt beginnt – sondern ein Netz von Beziehungen, Erwartungen und Übertragungen offenlegt.
Depression als Ausdruck eines tiefen inneren Konflikts
Systemisch betrachtet ist Depression nicht nur ein Zustand der Erschöpfung, sondern auch ein Ausdruck innerer Loyalität: Vielleicht zu einem Elternteil, der selbst nie Raum für Gefühle hatte. Vielleicht zu einer Familiengeschichte, in der „Durchhalten" mehr zählte als „Spüren". Vielleicht auch als stiller Protest gegen eine Lebensform, die Dich entfremdet hat: „Ich halte still, weil ich niemanden belasten will." „Ich ziehe mich zurück, weil ich das Drama nicht wiederholen möchte." „Ich erstarre, weil ich früher nur in der Anpassung sicher war."
Depression ist oft nicht das Ende von Lebensenergie, sondern ihre Umleitung. Ein tiefer, manchmal generationenübergreifender Konflikt, der keine Worte fand, aber Symptome.
Systemische Dynamiken erkennen
– Frühe Rollen Warst Du schon als Kind für das emotionale Gleichgewicht in Deiner Familie verantwortlich? Hast Du „funktioniert", um andere nicht zu verlieren?
– Verdeckte Aufträge Gibt es unausgesprochene Botschaften wie „Sei nicht traurig", „Sei stark", „Stell Dich nicht so an"?
– Gefühlsverbote Welche Emotionen waren in Deinem System erlaubt? Welche nicht?
– Transgenerationale Übertragungen Trägst Du Anteile oder Geschichten weiter, die nicht ursprünglich zu Dir gehören, aber nie gesehen oder betrauert wurden? Diese Dynamiken arbeiten in uns, oft unbewusst. Systemische Therapie macht sie sichtbar. Und das Sichtbarmachen allein verändert schon etwas.
Was Du für Dich tun kannst: Impulse für einen neuen Blick
– Stell Dir vor, die Depression spricht zu Dir. Was würde sie sagen, wenn sie Worte hätte? Welche Wahrheit traut sie sich auszusprechen? – Erlaube Dir, traurig zu sein – ohne Funktion. Nicht als Durchgangsstadium zur Besserung, sondern als Ausdruck Deines Menschseins.
– Lass das System mitreden. Sprich nicht nur über „Dich". Sprich auch über Deine Beziehungen, Deinen Platz darin, Deine Geschichte.
– Such Dir Verbündete. In Therapie, in Beziehungen, die nicht von Optimierung, sondern von Kontakt leben.
– Pflege Dein Nervensystem. Mit Licht, Regelmäßigkeit, Berührung, gutem Essen und mit der Erlaubnis, nicht alles sofort verstehen oder auflösen zu müssen.
Arbeite nicht gegen die Depression
Depression ist nicht einfach „in Dir". Sie ist zwischen Dir und den anderen. Zwischen Dir und Deiner Geschichte. Zwischen Dir und dem, was unausgesprochen blieb.
Wenn Du beginnst, nicht mehr gegen sie zu kämpfen, sondern ihr zuzuhören, entsteht ein neuer Raum: Ein Raum für Verstehen, für Wandlung und für eine Form von Lebendigkeit, die echt ist.
Wenn Du an einer Depression leidest und Dir Unterstützung auf Deinem weiteren Weg wünschst, dann melde Dich bei mir. Ich habe schon viele Klienten aus tiefen Tälern herausbegleitet und bin sehr gerne an Deiner Seite. Nimm jetzt Kontakt zu mir auf.
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