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Die stille Last: Wenn Eltern ihre Themen an ihre Kinder weitergeben

Aktualisiert: 27. Juni

Trauriges Kind mit Teddybär, Privatpraxis für Psychotherapie Ibrahim nach dem Heilpraktikergesetz

Es gibt Erfahrungen, die wir nie selbst gemacht haben und die uns trotzdem beeinflussen. Gefühle, die wir übernehmen, bevor wir sie verstehen können. Verhaltensmuster, die sich wie selbstverständlich anfühlen, obwohl sie uns einengen. Viele Menschen tragen Themen mit sich, die gar nicht bei ihnen selbst entstanden sind. Themen, die sich still und leise über Generationen hinweg vererben. Nicht durch Gene, sondern durch Beziehung, durch Bindung, durch das unausgesprochene emotionale Erbe ihrer Familie.

Was wir nicht verarbeiten, geben wir oft weiter

In der psychologischen Forschung spricht man hier von transgenerationaler Weitergabe oder intergenerationaler Transmission. Gemeint ist die unbewusste Weitergabe von Traumata, unverarbeiteten Gefühlen oder dysfunktionalen Beziehungsmustern von einer Generation zur nächsten.

Besonders gut erforscht ist dieses Phänomen zum Beispiel bei Kindern von Kriegskindern oder Holocaust-Überlebenden. Aber es zeigt sich genauso in „ganz normalen“ Familien, in denen z. B. Trennungen, psychische Erkrankungen, Sucht oder ein Mangel an emotionaler Zuwendung nie wirklich besprochen wurden. Die Folge: Die nächste Generation spürt etwas – kann es aber nicht einordnen.

Kinder kompensieren, was im Familiensystem fehlt

Ein zentrales Konzept aus der systemischen Therapie ist das der Loyalität: Kinder sind ihren Eltern tief verbunden – nicht nur biologisch, sondern emotional. Sie entwickeln ein feines Gespür dafür, was im System gebraucht wird. Und sie übernehmen – aus Liebe – Aufgaben, die eigentlich nicht zu ihnen gehören.

Ein Kind spürt z. B., dass die Mutter oft traurig ist – und versucht, sie zum Lächeln zu bringen. Oder es merkt, dass der Vater mit dem Leben überfordert ist – und entwickelt früh eine übermäßige Selbstständigkeit. Oder es wächst in einem Familiensystem auf, in dem Nähe und Sicherheit nie selbstverständlich waren – und kämpft im Erwachsenenalter mit diffusen Ängsten oder Bindungsunsicherheit.

Diese Parentifizierung, also die Rollenumkehr zwischen Kind und Eltern, ist ein Phänomen, das häufig unterschätzt wird und doch gravierende Auswirkungen haben kann. Sie lässt Kinder zu „kleinen Erwachsenen“ werden, lange bevor sie sich selbst entwickeln durften.

„Ich fühle etwas, das gar nicht mir gehört“

Ein besonders eindrückliches Konzept ist das der Identifikation im Sinne der Familientherapeutin Virginia Satir oder der Verstrickung nach Bert Hellinger: Kinder übernehmen unbewusst Gefühle, Haltungen oder sogar das Schicksal eines Elternteils oder Ahnen – in der Hoffnung, dadurch das Familiensystem zu entlasten.

Diese Dynamiken zeigen sich häufig in Sätzen wie:

  • „Ich habe immer das Gefühl, mich beweisen zu müssen.“

  • „Ich bin ständig angespannt, aber ich weiß gar nicht, warum.“

  • „Ich habe Angst, glücklich zu sein – als würde ich damit jemandem wehtun.“

  • „Ich funktioniere, aber ich fühle mich innerlich leer.“

All das können Hinweise darauf sein, dass etwas übernommen wurde, das nicht wirklich zur eigenen Geschichte gehört.

Was hilft, um sich zu entlasten?

Der erste Schritt ist immer das Bewusstwerden: Wenn wir erkennen, dass ein Teil unserer Belastung vielleicht gar nicht zu uns gehört, entsteht ein neuer innerer Spielraum. In der systemischen Therapie nutzen wir dazu z. B.:

  • Genogrammarbeit, um über mehrere Generationen hinweg Beziehungsmuster und „vererbte“ Themen sichtbar zu machen

  • Skulpturarbeit, bei der Beziehungen räumlich dargestellt werden – oft wird hier spürbar, wie sehr jemand in einer ungünstigen Rolle „feststeckt“

  • Ressourcenarbeit, um die eigenen Stärken auszubauen – besonders dann, wenn man sich zu sehr in der Verantwortung für andere verliert

Wichtig ist: Es geht nie darum, Eltern „schuldig zu sprechen“. Es geht um Verstehen. Um Würdigung. Und darum, innere Grenzen neu zu setzen.

 

Ein Fallbeispiel: Lena und die unsichtbare Verantwortung

Lena* (32) kam in meine Praxis, weil sie sich „ständig überfordert und gleichzeitig leer“ fühlte. Sie war beruflich erfolgreich, verlässlich, hilfsbereit – und innerlich erschöpft. In Beziehungen war sie unsicher, fühlte sich schnell zurückgewiesen und geriet immer wieder in Dynamiken, in denen sie „zu viel gab und zu wenig bekam“.

In der therapeutischen Arbeit zeigte sich: Lenas Mutter war alleinerziehend, emotional oft überfordert, mit einer eigenen depressiven Geschichte. Schon als Kind hatte Lena gelernt, sich zurückzunehmen, zu funktionieren und die Rolle der „kleinen Helferin“ zu übernehmen. Sie hatte kaum Erinnerungen daran, selbst getröstet oder gesehen worden zu sein. Ein wichtiger Moment in der Therapie war eine Familienskulptur: Lena stellte mit Figuren ihre Kindheitssituation auf – ihre Mutter erschien übergroß und traurig, sie selbst stand klein daneben, ohne Platz für sich. Als ich sie fragte: „Und wo ist das Kind, das sich einfach fallen lassen darf?“, wurde sie still. Tränen kamen. Zum ersten Mal konnte sie spüren, wie früh sie in eine Rolle gedrängt wurde, die sie nie bewusst gewählt hatte.

Im weiteren Verlauf arbeiteten wir mit einer Imaginationsübung, in der sie symbolisch die Verantwortung, die sie von ihrer Mutter übernommen hatte, zurückgab – liebevoll, aber klar. Sie stellte sich vor, wie sie ihre eigene Energie wieder zu sich zurückholte. Ein weiterer Schritt war die Arbeit mit dem inneren Kind: Lena lernte, sich selbst Mitgefühl zu schenken, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und nicht mehr automatisch in alte Helferinnen-Muster zu verfallen. Besonders hilfreich war hier das Entwickeln eines „inneren Erwachsenen“, der sie in stressigen Situationen unterstützte, Grenzen zu setzen.

 

Fazit: Du darfst loslassen, was nie zu Dir gehörte

Die stille Last, die wir oft über Jahre mit uns tragen, ist nicht unser Versagen – sie ist Ausdruck unserer Bindungsfähigkeit. Doch Du darfst heute anders entscheiden. Du darfst verstehen, was war, und gleichzeitig neue Wege gehen. Du musst die Vergangenheit nicht wiederholen.

Du darfst Dich befreien – Stück für Stück – und Dir selbst einen Platz in Deinem Leben geben, der Dir wirklich entspricht. Wenn Du spürst, dass Du Themen trägst, die vielleicht gar nicht wirklich zu Dir gehören, begleite ich Dich sehr gerne ein Stück auf Deinem Weg. Nimm jetzt Kontakt zu mir auf.

 

*Redaktioneller Hinweis: Meine Fallbeispiele basieren stets auf realen Fällen, sind jedoch zum Schutz meiner Klientinnen und Klienten so verfremdet, dass ein Wiedererkennen nicht möglich ist.

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