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Erwachsen sein – auch wenn das innere Kind noch am Steuer sitzt

Aktualisiert: vor 1 Tag

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Es gibt diese Momente, in denen wir uns ganz erwachsen fühlen – bis das Telefon klingelt. Am anderen Ende die Mutter, die fragt: ‚Wann kommst Du das nächste Mal vorbei?‘ Oder wenn im Job ein Konflikt auftaucht und wir uns am liebsten unter der Decke verkriechen würden. Erwachsensein ist eben nicht nur eine Frage des Alters oder des Personalausweises. Es ist ein innerer Prozess – manchmal ein mühsamer, manchmal ein befreiender und nicht selten ein lebenslanger.


In diesem Artikel schauen wir genauer hin, warum Menschen äußerlich erwachsen wirken, innerlich aber noch mit kindlichen Mustern ringen, und wie Du Deinen Weg zum echten Erwachsensein erkennen und gestalten kannst.


Wenn das „innere Kind“ am Steuer sitzt


In meiner Praxis sehe ich oft Menschen, die nach außen reif und kompetent wirken, innerlich aber noch mit kindlichen Mustern verhandeln. Sie können brillant funktionieren, Verantwortung im Job tragen, freundlich und hilfsbereit auftreten. Doch wenn es ans Eingemachte geht – Entscheidungen, Abgrenzung, echte Selbstverantwortung – stockt es.


Die Bindungstheorie von John Bowlby und Mary Ainsworth erklärt, warum: frühe Bindungserfahrungen prägen unser Selbstbild und unsere Beziehungsgestaltung. Menschen mit unsicherer oder ambivalenter Bindung entwickeln häufig Verhaltensstrategien, die in der Kindheit funktional waren – im Erwachsenenleben jedoch zu Überanpassung oder Rebellion führen können (Ainsworth et al., 1978; Bowlby, 1988).


Zwei Muster tauchen dabei besonders häufig auf:


Überanpassung: Das Motto: „Wenn es allen gut geht, geht es auch mir gut.“ Eigene Bedürfnisse treten in den Hintergrund, Grenzen verschwimmen. Manchmal bis zur Selbstaufgabe. Psychologisch lässt sich dies mit dem Konzept der „kompensatorischen Anpassung“ erklären: Die Person übernimmt Erwartungen anderer, um Bindung und Sicherheit zu gewährleisten.

Rebellion: „Mir sagt niemand, was ich zu tun habe!“ – klingt nach Freiheit, schafft aber oft neue Abhängigkeiten: von Stimmungen, vom Drang, anders zu sein, oder von immer neuen Autoritätskonflikten. Entwicklungspsychologisch betrachtet ist dies häufig ein Ausdruck nicht abgeschlossener Autonomieentwicklung.


Beide Muster sind – aus psychologischer Sicht – kreative Lösungen, nur eben Lösungen aus der Kindheit, die sich ins Erwachsenenleben verlängert haben.


Anzeichen für innere Unreife


Vielleicht erkennst Du Dich in einem oder mehreren Punkten:


  • Du weißt nicht so recht, was Deine Richtung ist – und wartest eher, wohin Dich das Leben trägt.

  • Konflikte sind für Dich wie Zahnarztbesuche: lieber verschieben, bis es wirklich nicht mehr anders geht.

  • Entscheidungen fühlen sich an, als würdest Du auf einem Flohmarkt stehen, überfordert von zu viel Auswahl.

  • Deine Ausstrahlung wirkt manchmal „jünger“, als Du bist – charmant, aber auch ein Hinweis auf innere Unreife.

  • Eltern spielen noch eine große Rolle, vielleicht mehr, als Dir bewusst ist. Manchmal wohltuend, manchmal einengend.

  • Du fragst Dich oft: „Was denken die anderen?“ – statt: „Was will ich?“

  • Kleine Ausbrüche wie ein Auslandsjahr, ein Jobwechsel oder ein längerer Urlaub können sich wie eine Befreiung anfühlen – doch solange das Fundament nicht innerlich mitwächst, bleibt es beim kurzzeitigen Kick.


Aus entwicklungspsychologischer Sicht bleibt damit die Aufgabe offen, die eigene individuelle Identität und später echte Intimität auf Augenhöhe zu entwickeln.


Der „innere Erwachsene“ als Brücke


Zwischen dem kindlichen Anteil in uns und dem reifen Erwachsenen gibt es eine Übergangsphase. Psychologisch lässt sich dies mit dem Konzept der Ego-States (Ich-Anteile) beschreiben: Unser „inneres Kind“ repräsentiert alte Bedürfnisse, Verletzungen und Überlebensstrategien, während der „innere Erwachsene“ die Fähigkeit hat, bewusst zu reflektieren, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. In der therapeutischen Arbeit geht es darum, diesen inneren Erwachsenen zu stärken – damit er das Steuer nach und nach übernehmen kann.


Was den Prozess unterstützt


Nicht jede:r schafft diesen Schritt allein. Resilienzfaktoren können dabei entscheidend helfen:


  • Sichere Beziehungen, in denen Du Dich zeigen kannst, ohne bewertet zu werden.

  • Selbstreflexion und Achtsamkeit, die Dich befähigen, eigene Muster zu erkennen.

  • Therapeutische Begleitung, die Halt gibt, wenn es schwerfällt, alte Loyalitäten zu lösen.


Wenn das innere Kind verletzt ist


Manche Menschen tragen tiefe Wunden aus der Kindheit in sich. Dann kann der Weg ins Erwachsensein besonders herausfordernd sein. Wichtig ist: Das bedeutet nicht, dass es unmöglich ist. Es braucht in diesem Fall eine traumasensible Begleitung, die sowohl die Verletzlichkeit des inneren Kindes würdigt als auch den Erwachsenenanteil stärkt.


Der stille Streik gegen das Erwachsensein


Hinter dem „Nicht-Erwachsen-Sein“ steckt oft kein Defizit, sondern ein unbewusster Widerstand. Ein innerer Streik, der seine Wurzeln in der Kindheit hat.


Zwei Formen zeigen sich besonders oft:


Treue: Hier bindet der unbewusste Glaubenssatz „Ich bleibe Dir treu, Mama (oder Papa). Ich lebe Dein Leben weiter.“ Besonders häufig, wenn ein Elternteil selbst unreif blieb und unbewusst die eigene Last auf das Kind legte. Wenn Du hierzu mehr erfahren möchtest, lies diesen Blogartikel.

Protest: „Ich werde niemals so wie ihr!“ – ein Satz, der nach Freiheit klingt, aber paradoxerweise immer noch in Bindung hält. Denn solange ich gegen etwas kämpfe, bin ich daran gebunden.


Systemisch betrachtet sind das Loyalitätsbindungen die uns festhalten: Wir verstricken uns, statt frei zu werden.


Erwachsenwerden heißt nicht: perfekt werden


Wichtig: Erwachsensein bedeutet nicht, keine Fehler mehr zu machen oder alles im Griff zu haben. Es bedeutet, das eigene Leben bewusst zu gestalten – statt sich treiben zu lassen, aus Angst oder aus alter Loyalität.


Psychologisch geht es darum:


  • Selbstverantwortung: nicht länger andere oder äußere Umstände für Dein Leben verantwortlich machen.

  • Entscheidungsfähigkeit: auch wenn’s weh tut, Entscheidungen treffen – und die Konsequenzen tragen.

  • Innere Freiheit: Loyalitäten würdigen, ohne in ihnen gefangen zu bleiben.


Erwachsenwerden ist kein Schalter, den man einmal umlegt, sondern ein Weg, der Schritt für Schritt gegangen wird. Und zugleich braucht es an einem bestimmten Punkt eine klare innere Entscheidung: Verantwortung zu übernehmen, Position zu beziehen und die eigene Selbstbestimmung wirklich zu leben.


*Fallbeispiel Marc – zwischen Ehe, Affäre und der Angst vor echter Entscheidung


Marc ist 35. Auf dem Papier wirkt sein Leben stabil: Ehefrau, zwei Kinder, ein sicherer Job. Doch seit Jahren lebt er ein Doppelleben. Immer wieder geht er Affären ein – kurze Abenteuer, die ihn von der Routine zu Hause ablenken. Dieses Mal aber ist es anders: Er hat sich in eine seiner Affären verliebt. Zum ersten Mal steht er vor der Frage, ob er bei seiner Frau bleiben oder mit der Affäre den „Absprung“ in eine neue Beziehung wagen soll.


In der Therapie mit mir wird deutlich: Marc steckt nicht einfach „zwischen zwei Frauen“, sondern in einem tieferen inneren Konflikt. Entscheidungen schiebt er endlos vor sich her, er schwankt zwischen Schuldgefühlen gegenüber seiner Familie und der Sehnsucht nach Freiheit. Hinter dieser Unentschlossenheit zeigt sich sein innerer Streik gegen das Erwachsensein: Verantwortung übernehmen, Position beziehen, Konsequenzen tragen – genau das vermeidet er.


Ein Blick in seine Geschichte macht verständlich, warum: Marcs Mutter war emotional wechselhaft, sein Vater häufig abwesend. Als Kind lernte er, sich anzupassen, Konflikte zu vermeiden und sich Liebe eher über Leistung und Gefallen zu sichern. Gleichzeitig entwickelte er eine stille Rebellion gegen Autorität und Bindung. Beides prägt ihn bis heute: die Loyalität zu seiner Familie und der Drang, auszubrechen.


Die Affäre wird so zum Symbol für seine innere Spaltung: ein Versuch, Freiheit zu erleben, ohne wirklich Verantwortung zu übernehmen. Erst in der therapeutischen Arbeit – über systemische Aufstellungen, Genogramm-Arbeit und zirkuläre Fragen – beginnt Marc zu erkennen, dass es nicht um die Wahl zwischen zwei Frauen geht, sondern um die Entscheidung, ob er bereit ist, endlich als Erwachsener Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.


Seine ersten Schritte sind klein, aber bedeutsam: eigene Entscheidungen treffen, Grenzen im Kontakt zu seiner Frau und auch zur Affäre setzen, ehrlich über seine inneren Konflikte sprechen. Für Marc wird klar: Freiheit bedeutet nicht, sich treiben zu lassen – sondern die eigene Richtung bewusst zu wählen und die Konsequenzen dafür zu tragen.


Fazit: Erwachsenwerden ist Beziehungsarbeit


Am Ende ist Erwachsensein weniger eine To-do-Liste als ein innerer Prozess. Es bedeutet, die Vergangenheit zu würdigen, alte Loyalitäten loszulassen und die Verantwortung für das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Schritt für Schritt. Und ja: manchmal fühlt es sich dabei immer noch an, als würde das innere Kind am Steuer sitzen. Aber genau dann gilt es, freundlich zu sagen: „Danke, dass Du mich bis hierher gefahren hast. Jetzt übernehme ich.“


Wenn Du Dich in diesen Beschreibungen wiedererkennst, bist Du nicht allein. Viele Menschen stecken in diesem Zwischenschritt fest – und genau dort beginnt die spannende Arbeit. In der Arbeit mit mir schauen wir gemeinsam hin: Was hält Dich noch zurück? Und wie kommst Du in Deine erwachsene Freiheit?


Wenn Du Dich dadurch angesprochen fühlst, melde Dich bei mir. Ich begleite Dich sehr gern auf dem Weg der Loslösung.

 

 

Literaturhinweise


  • Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., & Wall, S. (1978). Patterns of Attachment: A Psychological Study of the Strange Situation. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum.

  • Bowlby, J. (1988). A Secure Base: Parent-Child Attachment and Healthy Human Development. New York: Basic Books.

  • Watkins, J. G., & Watkins, H. H. (1997). Ego States: Theory and Therapy. New York: W. W. Norton.

 

*Redaktioneller Hinweis: Meine Fallbeispiele basieren stets auf realen Fällen, sind jedoch zum Schutz meiner Klientinnen und Klienten so verfremdet, dass ein Wiedererkennen nicht möglich ist.

 

 
 
 

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